GenaU hingeschaut: Schülerlabor Geisteswissenschaften

Was kann Philologie zur Versachlichung der Diskussion um den Koran, einen der umstrittensten Texte unserer Tage, beitragen? Wodurch unterscheidet sich die Wahrnehmungs- und Vorstellungswelt eines Menschen aus dem Mittelalter von unseren heutigen Sehgewohnheiten? Was genau steht im sog. Hippokratischen Eid und warum bildet er immer noch die wesentliche Referenz medizinischer Ethik? Welche Bedeutung hat der öffentliche Raum für die Wahrnehmung von Grundrechten wie dem auf freie Meinungsäußerung? Solchen Fragen können Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II im bundesweit ersten „Schülerlabor Geisteswissenschaften“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) u. a. nachgehen.

Seit 2007 ist das „Schülerlabor Geisteswissenschaften“ einziger geisteswissenschaftlicher Partner von GenaU. Für die naturwissenschaftlichen Mitglieder des Netzwerks bildete der Neuzugang damals eine exotische Ausnahme – und in der eigenen akademischen Community nicht minder. In den vergangenen acht Jahren hat sich dies erfreulicherweise geändert. In Bochum, Hamburg, Göttingen und an der Humboldt-Universität zu Berlin sind weitere geisteswissenschaftliche Schülerlabore entstanden, deren Betreiber regelmäßig miteinander im Austausch stehen und zurzeit ihrerseits über eine geeignete Form der überregionalen Vernetzung nachdenken. Der Vorstoß der Berliner Akademie hat also offensichtlich anregend gewirkt und wird hoffentlich die geisteswissenschaftliche Propädeutik außerhalb und innerhalb der Schule weiter befruchten.

Entwickelt wurde das Format auf Anregung und mit Unterstützung des damaligen Akademiepräsidenten Günter Stock von Yvonne Pauly, die zuvor als Literaturwissenschaftlerin an der BBAW, als Gymnasiallehrerin und Universitätsdozentin tätig war. Sie ist nach wie vor für die didaktische Konzeption aller Veranstaltungsreihen des „Schülerlabors Geisteswissenschaften“ verantwortlich und moderiert in der Regel auch die Workshops. Zur Seite stehen ihr in Abhängigkeit von den thematischen Schwerpunkten der Reihen wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Vorhaben der Akademie oder – seltener – aus externen wissenschaftlichen Einrichtungen. Dieses „Team-Teaching“ hat sich bewährt: Während die Betreuung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei vielen natur-, aber auch geisteswissenschaftlichen Schülerlaboren in den Händen von Studierenden v. a. aus Lehramtsstudiengängen liegt, bahnt das „Schülerlabor Geisteswissenschaften“ Begegnungen mit „echten“ Forscherinnen und Forschern an, die Erfahrung und Autorität aus ihrem beruflichen Alltag mitbringen und sich – im besten Fall – als role model empfehlen.

Hiermit geht ein weiteres Spezifikum des Projekts einher. Das „Schülerlabor Geisteswissenschaften“ offeriert nicht ein einmal erstelltes Portfolio von fünf oder zehn Themen zu bestimmten curricularen Schwerpunkten, sondern entwickelt in jedem Frühjahr und in jedem Herbst Staffeln zu immer neuen Themen und für verschiedene Unterrichtsfächer, die sich zu den Rahmenlehrplänen eher komplementär verhalten. Für die zwei bis drei Monate Laufzeit jeder Staffel sind die dabei verhandelten Fragestellungen daher nicht nur für die Adressaten, sondern auch für das Dozententeam noch gleichsam „frisch“, die Neugier, die es den Lösungsvorschlägen der Schülerinnen und Schüler entgegenbringt, folglich echt (wofür diese erfahrungsgemäß wiederum ein ausgeprägtes Sensorium haben). Auf die Auswahl aktueller, anspruchsvoller und hinreichend „fragwürdiger“ Gegenstände wird als Basis einer aufrichtigen und nicht bloß simulierten akademischen Kommunikation unter den Beteiligten im „Schülerlabor Geisteswissenschaften“ großer Wert gelegt.

Das Angebot des „Schülerlabors Geisteswissenschaften“ bildet das gesamte Spektrum geisteswissenschaftlicher Forschung ab, wobei der Begriff weit gefasst ist und sowohl traditionelle Kernfächer dieser Disziplingruppe wie Philosophie, Klassische Philologie und Geschichte als auch die modernen Kultur- und Sozialwissenschaften bis hin zur Volkswirtschaftslehre beinhaltet. Es wendet sich insbesondere an Leistungskurse der einschlägigen Unterrichtsfächer an Gymnasien, Gesamtschulen und Integrierten Sekundarschulen in Berlin und Brandenburg. Die Lerngruppen kommen für einen Schultag ins Hauptgebäude der BBAW am Gendarmenmarkt, wo sie auf die Sammlungen und Spezialarchive der Akademienvorhaben zurückgreifen können und lernen dort die Arbeit eines Theologen, eines Linguisten oder eines Musikwissenschaftlers kennen. Für die Lehrkräfte werden in Kooperation mit der Regionalen Fortbildung und mit dem Landesinstitut für Schule und Medien (LISUM) Berlin-Brandenburg zertifizierte Fortbildungsveranstaltungen durchgeführt, die über spezifische Inhalte der laufenden Schülerlabore informieren.

Insofern möchte das „Schülerlabor Geisteswissenschaften” zur Schaffung eines wissenschaftsfreundlichen gesellschaftlichen Klimas beitragen und Einblicke in fachspezifische Denk- und Arbeitsweisen geben. Es verfolgt ganz ähnliche Ziele wie seine natur- und technikwissenschaftlichen Entsprechungen. Das Schülerlabor will jungen Menschen in der Phase des Übergangs von der Schule zur Universität Orientierung und Entscheidungshilfe bieten: sei es für, sei es gegen ein geisteswissenschaftliches Studium. Generell dürfte die strategische Rekrutierung des akademischen Nachwuchses eine geringere Rolle spielen als in den MINT-Fächern, denn die Kultur- und Sozialwissenschaften haben doch zumindest quantitativ kein Nachwuchsproblem. Dem „Wettbewerb um die besten Köpfe“ unter den Abiturientinnen und Abiturienten stellen sie sich selbstverständlich dennoch – in der Hoffnung, dass sie den Geisteswissenschaften angesichts künftiger Einkommensperspektiven, Arbeitsplatzunsicherheit etc. nicht verloren gehen.

Worin besteht aber, so werden sich v. a. naturwissenschaftlich sozialisierte Leserinnen und Leser fragen, nun eigentlich der Labor-Charakter des „Schülerlabors Geisteswissenschaften“? Die Entsprechung liegt in der Handlungsbezogenheit der Arbeit mit den Jugendlichen, der auch hier zentrale Bedeutung zukommt. (Geistes-)Wissenschaft wird nicht als fertiges Ergebnis präsentiert, sondern als Prozess erfahrbar gemacht. Das zur Maxime der MINT-Schülerlabore avancierte „Hands on!“ spielt in den überwiegend in der hermeneutischen Tradition stehenden Sprach- und Kulturwissenschaften eine geringere Rolle. Doch ist auch das „Schülerlabor Geisteswissenschaften“ bestrebt, wo möglich einen Eindruck von der Materialität der Forschung zu vermitteln. So wurde etwa für eine Veranstaltungsreihe zur Epigraphik der mehr als mannshohe Abguss eines berühmten römischen Grabdenkmals in die Akademie gebracht. Kooperationen mit der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek u.a. ermöglichen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern den Umgang mit Originalmanuskripten und wertvollen Archivalien. Darüber hinaus werden, oft in Zusammenarbeit mit professionellen Druckereien und Buchbindereien, hochwertige Lernmaterialien gefertigt.

Für Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte aus den MINT-Fächern dürfte das Angebot des „Schülerlabors Geisteswissenschaften“ besonders dort attraktiv sein, wo es natur- und technikwissenschaftliche Themen aus geisteswissenschaftlichen Perspektiven in den Blick nimmt. Ein Beispiel war die in Kooperation mit dem „Gentechnologiebericht“ der BBAW 2015 durchgeführte Staffel zur Debatte um die Grüne Gentechnologie. Sie problematisierte insbesondere politische und rechtliche Dimensionen der jüngsten biotechnologischen Forschung und stellte so für Biologie-Leistungskurse eine wichtige Ergänzung zu diesem Fachunterricht dar. Auch im Jubiläumsjahr des Akademiegründers verspricht es spannend zu werden: Beginnend bei Leibniz, widmet sich die aktuelle Frühjahrsstaffel ab Mai einem Konzept, das die Welt veränderte: dem Binärcode. Sie stellt die (mathematischen) Grundlagen der Digitalisierung vor und untersucht ihre Kontexte und Folgen. Dabei verfolgt sie ein primär wissenschaftshistorisches Erkenntnisinteresse; Zielgruppe sind Leistungskurse der Fächer Philosophie, Mathematik und Informatik.

Weitere Informationen zum „Schülerlabor Geisteswissenschaften“ unter:
http://www.bbaw.de/AuS/Schuelerlabor/schuelerlabor

Ansprechpartnerin:
Dr. Yvonne Pauly, Koordinatorin „Schülerlabor Geisteswissenschaften“, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin 030/20370-372, pauly@bbaw.de

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